Ravi Ahuja
Die modernen Historiografien Europas erblickten bekanntlich im Tross diverser Nationalismen das Licht der Welt und richteten ihre Narrative am Telos der Nationswerdung aus. Ihr indisches Pendant hingegen war zunächst dem britisch-imperialen Projekt verpflichtet. Das militärisch-merkantile Establishment der East India Company, das sich ab Ende des 18. Jahrhunderts in eine despotische Administrationselite verwandelte, verband das Streben nach Maximierung der Grundsteuererhebung nicht selten mit akademisch-literarischen Ambitionen.
Koloniale Anfänge
Entsprechend stammten die ersten »modernen«, mit den Mitteln zeitgenössischer europäischer Wissenschaft arbeitenden Philologen und Historiker aus dem lokalen Führungspersonal des britischen Empires: Richter, Gouverneure, Lehrpersonal kolonialer Kaderschmieden, Administratoren annektierter indischer Regionen entwarfen nachhaltig einflussreiche Bilder indischer Geschichte.
Die Entwürfe variierten zwischen utilitaristisch-liberaler Aberkennung eigenständiger Geschichtlichkeit und romantisch-konservativer Beschwörung vergangener Größe. Die einen sahen es als britische Mission an, Indien erstmals in den Strom der Geschichte und des zivilisatorischen Fortschritts zu reißen; die anderen postulierten, die Wiedererringung einstiger zivilisatorischer Größe sei nur mit britischer Hilfe möglich: So oder so war die britische Herrschaft legitimiert. Ungeachtet aller Differenzen wurde die europäische Periodisierungstriade »Antike – Mittelalter – Neuzeit« reproduziert und Merkmale des politischen Spitzenpersonals als einziges Periodisierungskriterium anerkannt: Die indische Geschichte wurde in eine hinduistische, eine muslimische und (religiöse Selbstidentifikation vermeidend) in eine britische Periode aufgebrochen.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eignete sich die erste Generation indischer Intellektueller, die britische Bildungseinrichtungen absolviert hatten, diese Geschichtsbilder kritisch an. Die Entwertung der vorkolonialen indischen Geschichte wurde zurückgewiesen, während die These einer britischen Zivilisationsleistung in Indien einer vor allem wirtschaftshistorischen Kritik unterzogen wurde. So wurde die moderne Geschichtsschreibung für den sich formierenden indischen Nationalismus erschlossen: Sie wurde gegen ihre britischen Urheber gewendet, wobei allerdings das Periodisierungsmuster unverändert übernommen wurde. Auch das romantische Metanarrativ vergangener Blüte erwies sich als umwertungsfähig und konnte in divergierende Geschichtsinterpretationen Eingang finden.
Oft fühlten sich Historiker einer der Strömungen des indischen Nationalismus verbunden. Wer einem inklusiven, säkularen, vor allem antiimperialistischen Nationalismus anhing, sah in der britischen Eroberung die historische Ursache indischen Niedergangs. Wer einen exklusiven Nationalismus bevorzugte, der nationale Identität aus der Ausgrenzung eines inneren, meist nach politisch-religiösen Kriterien als »Fremdkörper« definierten Feindes gewann, betrachtete den Beginn der »muslimischen Herrschaft« als historischen Wendepunkt. Trotz dieser konzeptionellen Engführungen gelangen im frühen 20. Jahrhundert wichtige wissenschaftliche Leistungen, so der Beginn einer kritischen Wirtschaftsgeschichte und einer systematischen Archivierung vorkolonialer Materialien.
Der säkular-patriotische Konsens
Das Jahr 1947 markiert mit der Unabhängigkeit und Teilung des Landes eine Wende der Geschichtsschreibung. Die neue Generation indischer Historiker, die an den expandierenden Universitäten Lehrstühle übernahm, war vom Erleben des Unabhängigkeitskampfes geprägt und teilte die populäre Hoffnung auf einen postkolonialen historischen Neuanfang. Nation und Nationalismus waren, anders als im postfaschistischen Europa, als weitgehend unüberschreitbarer Referenzrahmen des politischen Handelns wie auch des wissenschaftlich Denkbaren konsensfähig.
Zugleich hatte die junge Intellektuellengeneration aber auch das Trauma der Teilung des Landes erlebt, bei der Hunderttausende Hindus, Muslime und Sikhs Pogromen zum Opfer gefallen waren. Ein exklusiver, religiöse Identität politisierender Nationalismus war spätestens seit der Ermordung Gandhis durch einen Hindu-Nationalisten für das Gros indischer Intellektueller für mindestens drei Jahrzehnte diskreditiert. »Kommunalismus«, wie Nationalismus auf religiös-völkischer Basis in Indien genannt wird, stand außerhalb des säkularen verfassungspatriotischen Konsenses. Der konservative, oft dem Hindu-Nationalismus zuneigende Flügel der indischen Historiografie, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch tonangebende Historiker wie R. C. Majumdar hervorgebracht hatte, starb deshalb nach der Unabhängigkeit weitgehend ab.
Die akademische Geschichtsschreibung des postkolonialen Indiens erlaubte eine Pluralisierung methodologischer und theoretischer Perspektiven und bewegte sich in einem Feld, das zwischen liberalen und marxistischen Polen von einem säkular-patriotischen Mindestkonsens definiert wurde – merklich anders also als im Zentraleuropa des Kalten Krieges. Sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven ermöglichten es, historiografische Konventionen, deren Fokussierung auf Dynastien, Staatsverfassung und damit auch die überkommene Periodisierungstriade zu überwinden. D. D. Kosambi, Romila Thapar und andere revolutionierten das Bild des frühen Indiens, Irfan Habib und die »Aligarh School« erschlossen die politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Mogulreiches, Neuzeithistoriker wie Bipan Chandra, Ravinder Kumar, Ranajit Guha und Sumit Sarkar legten Grundlagen für eine neue historische Kritik des Kolonialismus.
Der säkular-patriotische Konsens, der diese Historiker trotz stark divergierender Perspektiven verband, führte nicht unbedingt zur Vernachlässigung von Bruchlinien, die indische Gesellschaften durchzogen, noch führte er zwingend zur Beschränkung auf einen subkontinentalen Untersuchungsrahmen. Soziale Bewegungen rückten in den Forschungsfokus, während vornehmlich liberale Historiker wie Achin Dasgupta das frühneuzeitliche Indien in eine transregionale maritime Weltwirtschaft eingebunden sahen. Dennoch lässt sich die Tendenz feststellen, interreligiöse Spannungen im Nachhinein historiografisch zu »entschärfen« und Konfliktlinien innerhalb indischer Gesellschaften auf dem Hintergrund des Gegensatzes zur Kolonialmacht zu Nebenwidersprüchen zu erklären.
Über den nationalistischen Rahmen hinaus
Die autoritäre Notstandsregierung Indira Gandhis (1975 – 1977) markiert für die indische Geschichtswissenschaft einen weiteren Generationenbruch. Das Versprechen eines nationalen Neuanfangs nach Ende der Kolonialherrschaft klang inzwischen hohl; unter jungen Intellektuellen verbreiteten sich Desillusionierung und kritische Distanz zum postkolonialen Staat. Eine nachwachsende Historikergeneration stellte den säkularen Patriotismus ihrer Lehrer in Frage: Der Nationalismus selbst wurde nun zum Gegenstand kritischer Reflexion. Symptomatisch war das »Subaltern-Studies«-Kollektiv, das die Standarderzählung einer elitengesteuerten Nationswerdung verwarf und den Eigensinn subalterner Akteure in den Blick nahm.
Als zudem die Kastenproblematik in den 1980er Jahren ins Zentrum politischer Auseinandersetzung rückte und die Parteienlandschaft umkrempelte, wurde das Telos einer Nation, die ältere gemeinschaftliche Identifikationsstrukturen aufheben werde, so offensichtlich widerlegt, dass sich auch Historiker neue Fragen stellten. Schließlich konnte der Hindu-Nationalismus, der seit Ende der 1940er Jahre ein politisches Schattendasein geführt hatte, nach der Notstandsregierung Indira Gandhis als bedeutende parlamentarische Kraft reüssieren. Damit wurden auch die Ambivalenzen des indischen Nationalismus und die Bedeutung seiner religiös-völkischen Strömung über die formellen Organisationen der politischen Rechten hinaus zu einem historisch erklärungsbedürftigen Phänomen.
Als eine neue Kultur- und Geistesgeschichte seit den 1980er Jahren weltweit zum Innovationszentrum der historischen Wissenschaften heranwuchs, vollzog sich dieser Prozess in Indien auf diesem besonderen politischen Hintergrund. Die akademische Geschichtsschreibung reagierte mit neuen theoretischen Debatten zum Problemkomplex der »Postkolonialität«, mit methodenkritischer Reflektion über das Kolonialarchiv, mit einer Verlagerung der Relevanzräume historischer Forschung weg von der nationalen und hin zu regionalen, lokalen, in jüngster Zeit auch transnationalen Ebenen, schließlich mit einer Diversifizierung historischer Spezialisierungen, von denen hier lediglich die Gender-, Umwelt- und Dalit-Geschichte genannt seien.
Die historische Forschung Indiens hielt internationalem Vergleich ohne Weiteres stand, was sich auch darin niederschlug, dass für »südasiatische« (auf den indischen Subkontinent fokussierte) Geschichte seit den 1990er Jahren in zahlreichen historischen Seminaren der angelsächsischen Universitätswelt neue Stellen eingerichtet und vorwiegend mit Absolventen indischer Universitäten besetzt wurden. Vor allem aber wurden indische Stimmen im internationalen Konzert der Historiografien öfter und deutlicher vernehmbar.
Der Diskurs der »verletzten Gefühle«
Zudem wurden Ansätze einer Demokratisierung der Geschichtswissenschaft in Indien selbst spürbar: Historische Debatten hatten in Indien nie mehr als eine winzige, englischsprachige und meist hochkastige Bildungselite erreicht. Aus dem Kreis ihrer Sprösslinge bezogen die besten, an wenigen Universitäten konzentrierten historischen Seminare ihre Studierenden. In der Breite der Hochschulen führt die Geschichtswissenschaft seit jeher eine Randexistenz, und der schulische Geschichtsunterricht beschränkte sich, ungeachtet aller Fortschritte der historischen Forschung, auf geistloses, jede Neugier erstickendes Einpauken nationalistischer Katechismen. Erst das letzte Jahrzehnt ließ auf Verbreiterungstendenzen hoffen. Zumindest für eine Minderheit der Schulen wurden neue, forschungsnahe Geschichtsbücher realisiert, und talentierte Studierende der ersten Akademikergeneration drangen bisweilen in die besten historischen Seminare vor.
Mit dem Aufschwung identitärer Bewegungen und besonders der politischen Hindu-Rechten seit Beginn der 2000er Jahre machten sich zugleich aber Gegentendenzen bemerkbar, die in scharfen Konflikten um Schulbuch- und universitäre Lehrinhalte sowie in Publikationsverboten Ausdruck fanden. Ein Diskurs der »verletzten Gefühle« wird gegen die Geschichtswissenschaft in Stellung gebracht: Wo Forschungsbefunde schmerzen, sucht man sie als Störung der öffentlichen Ordnung zu unterbinden. Seit der Wahl der derzeitigen Regierung unter Premierminister Modi im Jahre 2014 erleben wir einen Frontalangriff auf die Geschichtswissenschaft und auf die kritische Geistes- und Sozialwissenschaft insgesamt. Das konventionelle säkular-patriotische Narrativ ist nun ebenso unerwünscht wie ein differenzierteres, wissenschaftlich fundiertes und offenes Geschichtsbild. Geschichte soll durch völkisch-autoritären Mythos ersetzt werden. In der politischen Praxis findet dies in massiven Eingriffen in die Autonomie von wissenschaftlichen Verbänden, Forschungsinstituten und Universitäten sowie in Kampagnen gegen vorgeblich »antinationale«, »indischem Wesen« fremde Aktivitäten renommierter indischer wie ausländischer Wissenschaftler seinen Ausdruck.
Es ist kaum wahrscheinlich, dass antiintellektuelles Kampagnenwesen von gesellschaftlichen Grundproblemen wie der chronischen Agrarkrise und dem jobless growth dauerhaft ablenken kann. Die regionale Diversität und die demokratischen Traditionen Indiens erschweren zudem die Realisierung autoritärer Bestrebungen, auch wenn diese derzeit einem globalen Trend folgen. Die indische Geschichtswissenschaft selbst scheint intellektuell und institutionell ausreichend robust, um den Sturm zu überstehen. Für die mageren Ansätze einer Demokratisierung der Geschichtswissenschaft sind die Aussichten in der »größten Demokratie der Welt« bis auf Weiteres allerdings trübe.
Ironischerweise scheinen sich die Hindu-Nationalisten um Narendra Modi, die im Notfall stets auf antimuslimische Mobilisierung zurückgreifen, am »Feindstaat« Pakistan ein Vorbild zu nehmen: Im Rahmen der Islamisierungspolitik des Diktators Zia-ul-Haq wurde dort in den 1980er Jahren kritische Geschichtswissenschaft von den staatlichen Universitäten großenteils durch »Pakistan Studies« verdrängt. Dem einheimischen anglisierten Finanz- und Bildungsadel mochte man freilich solch magere Kost nicht auftischen: An privaten, sozial exklusiven Universitäten ließ sich nach wie vor vorzüglich Geschichte studieren. Auf dem Hintergrund der aktuellen Gründungswelle privater Universitäten in Indien stellt sich nun auch hier die Frage: Wie teuer muss das Recht auf kritische Reflexion der eigenen Geschichte erkauft werden?
Bild: Karte des Indischen Ozeans aus der Sammlung des Hamburger Syndikus Johann Klefeker.

Ravi Ahuja hat zu verschiedenen Aspekten der indischen Sozialgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts geforscht, die Stadtgeschichte, Infrastrukturgeschichte und die Sozialgeschichte des Krieges einschließen. Nachdem er unter anderem am Heidelberger Südasien-Institut gelehrt und am Berliner Zentrum Moderner Orient geforscht hatte, war er als Professor für Moderne Südasiatische Geschichte an der School of Oriental and African Studies (SOAS), University of London, tätig. Seit 2009 ist er Professor für Moderne Indische Geschichte am Göttinger Centre for Modern Indian Studies (CeMIS).
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